Schellings Idee einer Naturphilosophie
Ein noch heute herausforderndes Projekt1

Wolfdietrich Schmied-Kowarzik
Universität Kassel
Institut für Philosophie






Einleitung
I. Transzendentalphilosophie
II. Naturphilosophie
III. Das Verhältnis der Naturphilosophie zu Naturwissenschaft, Naturerfahrung und Naturforschung

Literaturhinweise




 

Einleitung

Als der 23-jährige außerordentliche Prof. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling vor 200 Jahren am 14. Oktober 1798 in Jena mit seinen Vorlesungen begann, bot er zwei Lehrveranstaltungen an: "Die Elemente des transzendentalen Idealismus" und "Philosophie der Natur". Äußerlich gesehen genügte er damit den Erwartungen der beiden Parteien, die seine Berufung unterstützt und betrieben hatten.

Seit seinen ersten philosophischen Veröffentlichungen, die Schelling noch als 19- bzw. 20-jähriger Tübinger-Student geschrieben hatte, wurde er in philosophisch interessierten Kreisen als Anhänger Fichtes wahrgenommen, und Fichte hatte ihm die Mitarbeit in dem von ihm und Niethammer herausgegebenen Philosophischen Journal angeboten. Durch diese Beiträge hatte sich Schelling als Transzendentalphilosoph aus dem Umfeld Fichtes einen angesehenen eigenen Namen gemacht. Doch die Berufung nach Jena verdankte Schelling gerade nicht dieser offenkundigen Nähe zu Fichte, sondern seinem kurz zuvor erschienenen Buch Von der Weltseele (1798), von dem Goethe so begeistert war, dass er die Berufung Schellings nach Jena ermöglichte, von dem er sich eine naturphilosophische Fundierung der von ihm favorisierten phänomenologischen Naturforschungen erhoffte.

Aber der Spagat, den Schelling mit seinen beiden Vorlesungen unternimmt, wird erst dann ganz verständlich, wenn wir den Kernpunkt des zwischen Goethe und Fichte nie offen ausgetragenen Konflikts am Naturproblem verdeutlichen. Für Fichte geht - in Radikalisierung der Kantischen Transzendentalphilosophie zur Wissenschaftslehre - die Natur völlig in der wissenschaftlichen Naturerkenntnis auf, für ihn gibt es keine Natur an sich oder für sich hinter der Gegenstandskonstitution des erkennenden Subjekts. Dem Subjekt, dem Ich, gegenüber ist die Natur nur Nicht-Ich, Objekt seiner erkennenden und zwecksetzenden Rationalität, gerade darin erweist sich die Freiheit des erkennenden und handelnden absoluten Ich gegenüber der Natur. Demgegenüber versteht Goethe - philosophisch steht dahinter Spinoza bzw. ein damals viel diskutierter naturalistischer Spinozismus - die Natur als lebendige Ganzheit, in die der Mensch anschauend und wirkend mit eingebunden ist. Die Freiheit des Menschen kann daher niemals eine gegen die Natur sein, sondern kann sich nur in der vernünftigen Einfügung in die Natur bewähren.

Diese beiden Positionen stehen gänzlich unversöhnbar einander gegenüber, auch ein jugendlicher Feuerkopf wie Schelling, hätte sich deren Vermittlung nicht vornehmen können. Was ermöglicht es also Schelling in einer doppelten Vorlesungsreihe trotzdem ein vermittelndes Aufeinanderzudenken zu versuchen? - von dem er gleichsam rückblickend, denn danach modifiziert er seine Position, im System des transzendentalen Idealismus (1800) schreibt: "Was den Verfasser hauptsächlich angetrieben hat, auf die Darstellung des Zusammenhangs, welcher eigentlich eine Stuffenfolge von Anschauungen ist, durch welche das Ich bis zum Bewußtseyn in der höchsten Potenz sich erhebt, besonderen Fleiß zu wenden, war der Parallelismus der Natur mit dem Intelligenten, auf welchen er schon längst geführt worden ist, und welchen vollständig darzustellen weder der Transscendental- noch der Naturphilosophie allein, sondern nur beyden Wissenschaften möglich ist, welche ebendeßwegen die beyden ewig entgegengesetzten seyn müssen, die niemals in Eins übergehen können." (AA 9, 25)

Was Schelling - um das Ergebnis gleich vorweg zu sagen - seit 1797 ausdrücklich entwickelt - obwohl sich Spuren dazu bis in die frühen Tübinger-Jahre zurückverfolgen lassen -, ist der von Leibniz aufgenommene und fortentwickelte Gedanke einer "prästabilierten Harmonie", und zwar, wie Schelling immer wieder betont, nicht einer prästabilierten Harmonie von Innen- und Außenwelt, Bewusstsein und Realität, denn solches wäre ein Ungedanke, sondern - wie er es nennt - einer "immanenten prästabilierten Harmonie" zwischen individueller Monade und monadischem Universum. D.h. die Einheit von Dasein und Bewusstsein, die wir uns selbst wissend sind, steht in prästabilierter Harmonie zur Einheit von Wirklichkeit und Vernunft, die wir als Weltzusammenhang erfassen. Wenn sich Bewusstsein und Welt derart ineinander spiegeln, dann hat es Sinn transzendentalphilosophisch nach der Stufenfolge der konstituierenden Momente des Bewusstseins zu fragen, die die Totalität unserer Welterfahrung ausmachen, und umgekehrt naturphilosophisch die Stufenfolge der konstitutiven Momente zu verfolgen, die die Natur bis zur Hervorbringung des menschlichen Bewusstseins durchläuft. Beide aufeinander zulaufende Denkwege erweisen sich dann als Annäherungen an ein und dieselbe angezielte Einheit, die wir doch nie ganz, sondern immer nur im Sprung eines Perspektivenwechsels erreichen: einmal transzendentalphilosophisch aus der Immanenz des Bewusstseins und zum anderen naturphilosophisch aus der Immanenz des Naturprozesses heraus. Die Ermöglichung zu diesem Sprung aber liegt in uns selbst als Menschen, denn der Mensch ist - wie Schelling in den Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797) sagt - "das sichtbar, herumwandernde Problem aller Philosophie". (AA 5, 105)

Im folgenden soll versucht werden, das was bisher nur thetisch als "prästabilierte Harmonie" umschrieben wurde, etwas konkreter in den Problemkonturen darzulegen, wie Schelling sie vor 200 Jahren hier in Jena vorgetragen hat.

 

I. Transzendentalphilosophie

Zunächst geht es darum, verständlich zu machen, inwiefern Schellings transzendentaler Idealismus sich auf eine solche - von Fichte her gesehen völlig undenkbare - spiegelnde Korrespondenz mit einer Naturphilosophie einlassen kann, ja muss. Die von Fichte abweichende Problemstellung des transzendentalen Idealismus Schellings drückte sich schon in den ersten Sätzen Vom Ich als Prinzip der Philosophie (1795) aus: "Es muß einen letzten Punkt der Realität geben, an dem alles hängt [...]. Der letzte Grund aller Realität nämlich ist ein Etwas, das nur durch sich selbst, d.h. durch sein Seyn denkbar ist, das nur insofern gedacht wird, als es ist, kurz, bei dem das Princip des Seyns und des Denkens zusammenfällt." (I, 162 f.)

Wenn wir genau hinhören, so haben wir hier schon die ganze Differenz zu Fichte ausgesprochen - obwohl diese Fichte und Schelling damals noch verborgen blieb. Fichte fragt in seiner Wissenschaftslehre nach dem letzten Grund aller Erkenntnisgewissheit und er findet diese in der Selbstgewissheit des Ich bin Ich. In der Selbstgewissheit ist für ihn auch die Gewissheit des Für-sich-Daseins impliziert und ein anderes Dasein erkennt er nicht an. Ganz anders nun Schelling, er fragt vom ersten Satz an nach der Realität, nach der Daseinsgewissheit in unserem Wissen. Schelling findet den Zugang zu dem von ihm gesuchten "Urgrund der Realität" - hierin fast wortgleich mit Fichte - in der Daseins- und Selbstgewissheit des Ich bin Ich. Und doch ist das was Fichte und Schelling mit dem Ich bin Ich ansprechen etwas grundlegend Verschiedenes.

Um dies näher an dem zu erläutern, was Schelling im Wintersemester 1798 in Jena vortrug, springe ich nun in seine Ausführungen im Philosophischen Journal vom Sommer 1797. Wieder ist es hier die Grundfrage nach der "Realität des menschlichen Wissens" (AA 4, 102) von der Schelling ausgeht: "Alles Denken und Schließen aber setzt bereits eine Wirklichkeit voraus, die wir nicht erdacht noch erschlossen haben. [...] Man kann uns diese Wirklichkeit nicht entreißen, ohne uns uns selbst zu entreißen." (AA 4,103) Denn dort wo unser Selbstbewusstsein zu sich erwacht, findet es sich bereits als daseiend in einer daseienden Welt vor.

Gleichwohl sind die beiden, die Daseinsgewissheit meiner selbst und die Daseinsgewissheit einer Welt außer mir, zusammengehörige Momente der Realitätsgewissheit meines Bewusstseins. Somit gilt es beides, die Realität der Gegenstände und die Realität des Selbstbewusstseins, sowohl in ihrer unlösbaren Verwiesenheit aufeinander als auch in ihrer Unterscheidung voneinander transzendentalphilosophisch zu ergründen. Wir haben zwar nicht zwei Bewusstseine in uns, sondern nur eins und doch müssen wir gedanklich und terminologisch genau unterscheiden. In unserem individuellen Selbstbewusstsein stehen wir immer schon einer Welt außer uns gegenüber, beides ist aber Inhalt des absoluten Horizontes unseres Bewusstseins, den Schelling 1797 Geist nennt. Da nichts von außen "durch unsere Sinne, als durch offene Fenster, in die Seele einziehen" (AA 4, 106) kann, hat der transzendentale Idealismus, wie ihn Schelling versteht, aufzuzeigen, wie alle Welt- und Selbsterkenntnis als Bewusstseinsinhalte des einen Geistes konstituiert sein können.

Wo wir dies Stufe für Stufe transzendentalphilosophisch rekonstruieren, betreiben wir, gleichsam auf die Naturerfahrung bezogen, Aufklärung unseres vorbewussten Bewusstseins. Das will sagen: die Stufen des Empfindens, des Anschauens, der Reflexion - wie sie Schelling transzendentalphilosophisch als Inhalte des Bewusstseins entwickelt - sind alle schon in unsere Erfahrung der Natur eingegangen, wenn wir zu unserem individuellen Selbstbewusstsein gelangen und uns als daseiend in der daseienden Welt erfahren. Und erst von hier aus können wir bewusst mit der wissenschaftlichen Erkenntnis der Natur beginnen, aber die Natur liegt uns dabei immer schon als daseiende vor, wir erfassen sie räumlich-zeitlich strukturiert und wir erleben organische Phänomene; dies alles erweist sich für unser individuelles Selbstbewusstsein als eine vorbewusste Konstitution unseres absoluten Horizontes unseres Geistes.

Bedenken wir dies nicht von unserem individuellen Selbstbewusstsein, sondern von der absoluten Einheit unseres Geistes her, so erweist sich dessen Gesamthorizont als nichts anderes als sein unendliches Tätigsein durch alle Inhalte der Selbst- und Welterfahrung als Produkte seiner "selbsteignen Synthesis" (AA 4,106) hindurch. "Durch die Tendenz zur SelbstAnschauung begränzt der Geist sich selbst. Diese Tendenz aber ist unendlich, reproducirt ins Unendliche fort sich selbst. (Nur in dieser unendlichen Reproduction seiner selbst dauert der Geist fort. Es wird sich bald zeigen, daß ohne diese Voraussetzung das ganze System unsers Geistes unerklärbar ist). Der Geist hat also ein nothwendiges Bestreben, sich in seinen widersprechenden Thätigkeiten anzuschauen." (AA 4,107)

Aus seinen gegenwirkenden Tendenzen von Anschauung und Reflexion, von Realitätssetzung und Erkenntnisbestimmung entstehen sämtliche Inhalte der Selbst- und Welterfahrung, deren Stufenfolge in ihrer gegenseitigen Ermöglichung, Durchdringung und Begrenzung es transzendentalphilosophisch zu rekonstruieren gilt. Die Transzendentalphilosophie, die diese Stufenfolge insgesamt durchläuft, erweist sich somit als die abschließende Selbstanschauung des Geistes im Prozess seines Werdens durch all seine Formen hindurch, in ihr schaut sich der Geist als daseiender und sich-wissender an: "Alle Handlungen des Geistes also gehen darauf, das Unendliche im Endlichen darzustellen. Das Ziel aller dieser Handlungen ist das SelbstBewußtseyn [des Geistes], und die Geschichte dieser Handlungen ist nichts anderes, als die Geschichte des SelbstBewußtseyns." (AA 4,109)

Was Schelling hier im Sommer 1797 als Geschichte des Selbstbewusstseins des Geistes vorentwirft und vor 200 Jahren in seiner ersten Vorlesung in Jena vortrug, ist das Konzept von dem, was er zweieinhalb Jahre später im System des transzendentalen Idealismus (1800) als transzendentale Rekonstruktion der Stufenfolge der Dimensionen der Naturerfahrung - Empfindung, Anschauung, Reflexion - der Praxiserfahrung - freier Wille, Recht, Geschichte - und der Erfahrung absoluter Vermittlung beider Bereiche in der ästhetischen Produktivität der Kunst entfaltet. Es sind also die grundlegenden Konstitutionsmomente für die Fülle unseres wirklichen Erfahrens, die Schelling mit seinem transzendentalen Idealismus zu rekonstruieren versucht.

 

II. Naturphilosophie

Wir sind nun soweit mit Schellings Naturphilosophie beginnen zu können, wie er sie als 23-jähriger in seiner ersten Vorlesung in Jena 1798 vorgetragen hat, niedergelegt im Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799). Hier gilt es nicht das Erfahren, sondern die erfahrene Wirklichkeit selbst bedenkend zu rekonstruieren. Wo wir die Natur als Wirklichkeit selbst, als "unbedingte Realität" begreifen wollen, da gehen - wie Schelling ausführt - zwei Voraussetzungen ein: ihre "Autonomie", "die Natur ist ihre eigene Gesetzgeberin", und ihre "Autarkie", "die Natur ist sich selbst genug". Und erläuternd fügt Schelling in seinem Vorlesungshandexemplar 1799 hinzu: "die Natur hat ihre Realität aus sich selbst - sie ist [...] ein aus sich selbst organisirtes und sich selbst organisirendes Ganzes." (III, 17)

Es geht also hier um die von Kant in der Kritik der teleologischen Urteilskraft aufgeworfene Frage, wie die als Ganzheit erfahrene Natur auch als aus sich vermittelte Ganzheit begriffen werden kann. Nur dass Schelling nicht nur wie Kant bei der einen Forderung stehenbleibt, dass wir grundsätzlich genötigt sind, in reflektierender Urteilskraft die Idee einer sich "selbst organisierenden" Natur bilden zu müssen, sondern dass er dieser Forderung mit seiner Naturphilosophie konkret und differenziert zu erfüllen versucht.

Eine sich in all ihren Gestaltungen hervorbringende und sich durch all ihre Gestaltungen immer wieder erhaltende und durch sie hindurch immer erneuernde Natur lässt sich überhaupt nur denken, wenn wir drei Momente für sich festhalten, die nur in ihrem Zusammenwirken das ausmachen, was wir als wirkliche Natur in ihrem Prozessualzusammenhang erfahren.

Zum ersten ist die Natur unendliche Produktivität. Wir erfahren die Natur, überall wo sie uns begegnet, als unentwegt und stetig sich produktiv erneuernde "durch das unendlich Werdende" (III, 15) hindurch. Doch das erste Moment allein reicht nicht aus die Natur in ihrer Ganzheit zu erfassen, denn wo immer wir Natur erfahren, da erfahren wir sie in bestimmten Gestalten. Wir müssen der unendlichen Produktivität eine ebenso unendliche Hemmung der Produktivität als zweites Moment entgegensetzen, das auf Bestimmtheit hin drängt und durch das überhaupt erst Qualitäten denkbar werden (III, 24). Bildlich lässt sich dies nur so umschreiben: Von einer Anfangsexplosion aus strebt eine Kraft nach allen Richtungen ins Unendliche hinaus, der von der Endperipherie her eine sie aufhebende Kraft entgegenwirkt, sodass in jedem Punkt des Universums beide gleichstark aufeinandertreffen.

Auch diese zwei Momente reichen jedoch noch nicht aus, um die wirkliche Natur, die wir erfahren, zu begreifen, denn beide - gleich stark wie Position und Negation gegeneinander gerichtet - würden sich auslöschen, wäre nicht noch das dritte Moment, das ihre wechselseitige Vermittlung in jedem einzelnen Naturprodukt ermöglichte. In jeder einzelnen Naturgestaltung vernichten und erneuern sich die Produktivität und die Hemmung ununterbrochen - und das ist es, was wir als Natur erfahren. "Kein Produkt in der Natur ist also fixirt, sondern in jedem Augenblick durch die Kraft der ganzen Natur reproducirt. (Wir sehen eigentlich nicht das Bestehende, sondern das beständige Reproducirtwerden der Naturprodukte)." (III, 18)

Jetzt erst haben wir im Begriff das erreicht, was wir auch als wirkliche und werdende Natur erfahren, einen produktiven Prozess, der durch alle seine Gestaltungen hindurch sich permanent erneuert. In Explikation dieser grundlegenden Gedanken, wie die Natur als werdender, sich selbst hervorbringender Wirklichkeitszusammenhang gedacht werden muss, prägt Schelling das Bild von der Natur als wirbelndem Strom des Werdens: "Man denke sich einen Strom [...], wo er einem Widerstand begegnet, bildet sich ein Wirbel, dieser Wirbel ist nichts Feststehendes, sondern in jedem Augenblick Verschwindendes, in jedem Augenblick wieder Entstehendes. [...] - An jedem solchen Punkt bricht sich der Strom (die Produktivität wird vernichtet), aber in jedem Moment kommt eine neue Welle, welche die Sphäre erfüllt." (III, 289)

Bisher haben wir nur die Idee der Natur als sich selbst produzierende Wirklichkeit in ihrer Ganzheit bedacht. Nun erst gilt es, den Naturprozess selbst in seinen konkreten hervorgebrachten Gestaltungen begreifend zu rekonstruieren. Die Grundidee der Naturphilosophie Schellings ist, dass die drei Momente, die wir bisher als Denkvoraussetzungen für die Idee der Natur eingeführt haben, sich auch als Momente der Natur selbst erweisen lassen müssen. Als Momente der wirklichen Natur sind sie aber nicht mehr bloß Prinzipien des Denkens, sondern Wirkmächte der Natur selbst, die Schelling daher "Potenzen" nennt. Die Potenzen, die die Natur insgesamt in ihrer konkreten Gesamtheit beschreiben, sind die Materie, das Licht und der Organismus. Jede dieser Potenzen kann als eine bestimmte Naturgestalt selbst wiederum nur aus jener gerade umschriebenen dreifachen Bestimmtheit als sich reproduzierende Gestalt begriffen werden, und jede beherrscht einen bestimmten Bereich: die Materie die siderische Sphäre des Himmelsgeschehens, das Licht die dynamisch-qualitativen Dimensionen der magnetisch-elektrischen-chemischen Prozesse und der Organismus den Bereich der Lebensprozesse.

Eines der größten Probleme ist die Frage nach dem Anfang mit der Materie, da wir keineswegs - wie Platon und Aristoteles - mit der Materie als Vorhandener beginnen können, denn es geht ja darum, das Werden der Natur aus sich selbst in der Totalität ihrer Hervorbringungen zu begreifen. Die Materie kann daher zum einen nicht als etwas dem Werden bereits Vorliegendes angesetzt werden, sondern auch sie muss ein sich reproduzierendes Geschehen aus zwei sich in ihr gegenseitig ständig aufhebenden und ständig erneuernden Grundkräften gefasst werden.

Schon in seiner Vorlesung vor 200 Jahren umschreibt Schelling das Problem mit erstaunlicher Prägnanz: "Die ganze Natur [...] soll einem immer werdenden Produkte gleich seyn. Die gesammte Natur also muß in beständiger Bildung begriffen seyn [...]. Alles, was die Natur ist, muß angesehen werden als ein Gewordenes. [...] Es muß daher ein allgemeiner Zwang zur Combination durch die ganze Natur stattfinden [...]. In jeder Materie also ist Combination, keine Materie also primitiv." (III, 33f.)

Für uns heute ist das was Schelling vor zweihundert Jahren ausführte leichter nachzuvollziehen, als es zu seiner Zeit war. Wo immer uns Materie entgegentritt, finden wir sie als in sich bewegt vor: beispielsweise als rotierenden Himmelskörper. Dieser in sich rotierende Himmelskörper ist das je bestimmte Ergebnis zweier in ihm gegenwirkender Kräfte, die nicht von gleicher Art sind, die sich in ihm beständig vernichten und beständig erneuern. Nun gibt es nicht nur einen in sich rotierenden Himmelskörper, sondern das Ergebnis des siderischen Materiegeschehens, das wir am bestirnten Himmel erfahren, ist die unendliche Vielfalt von Himmelskörpern, die sich alle in einem strukturierten Zusammenhang zueinander bewegen, die "allgemeine Verkettung aller Materie" (IV, 29) im Gravitationssystem. Vielleicht wird hieran deutlicher, was Schelling meint, wenn er sagt, dass dieser Gesamtzusammenhang nur als Ergebnis zweier wie Position und Negation gegenwirkender kosmischer Kräfte, der Expansions- und Attraktionskraft, sowie ihrer gegenseitiger Synthesis verstanden werden kann. Aber diese zwei kosmischen Kräfte und ihre Synthesis sind für uns nicht direkt, sondern nur indirekt an ihrem sich konkretisierenden Ergebnis erfahrbar. "Jene drei Momente nämlich, die wir in der Construktion der Materie annahmen, existiren nicht selbst in der wirklichen Natur; es ist der einzige Proceß der Schwere [das Gravitationssystem], der [...] sich bis in die Sphäre der Erfahrung herein erstreckt. Nämlich nicht jene ersten Processe, sondern nur ihre Wiederholung in der ihr Produciren reproducirenden Natur lassen sich in der Wirklichkeit aufzeigen." (IV, 43)

Die beiden ursprünglichen kosmischen Kräfte stehen in gewisser Korrespondenz zu Raum und Zeit, die selbst nichts Materielles sind, sondern nur die Formen seiner Ermöglichung. Wohin immer raumerfüllende Gravitation reicht, ist Raum, und wohin immer zeitausspannendes Licht dringt ist Zeit. So ist alle bewegte Materie in die unendliche Vermittlung von Raum und Zeit als Formermöglichung des Universums gestellt.

Für das Universum gibt es keinerlei Begrenzung, denn als ermöglichende Formen können Raum und Zeit keine Begrenzungen abgeben. Und doch gibt es eine Begrenzung des Materiellen und diese liegt im Hervortreten der zweiten Potenz des Lichts, bzw. jener Aktionen, die am Licht in Erscheinung treten können. Die Begrenzung ist also keine äußere, sondern eine innere, im Aktivwerden der zweiten Potenz, die Schelling vor allem an den Phänomenen der dynamischen Prozesse des Magnetismus, der Elektrizität und der chemischen Prozesse diskutiert. All diese Prozesse setzen das Materiegeschehen der Gravitation der ersten Potenz keineswegs außer Kraft, aber sie beginnen die Materie von ihren inneren Qualitäten her neuen dynamischen Prozessen zu unterwerfen, wodurch sich die Materiezustände verändern. (IV, 59)

Schelling ist von Anfang an seiner Naturphilosophie der Überzeugung, dass die dynamischen Prozesse des Magnetismus, der Elektrizität und der Chemie untereinander selber in einem systematischen Zusammenhang stehen, wobei an den chemischen Prozesse mit ihren Lösungen und Bindungen die Unendlichkeit dynamischer Prozessualität zum Ausdruck kommt. In ihnen insgesamt steht die Materie unter der Potenz des Lichts bzw. der hinter dem Licht verborgenen Aktionen unter der Dominanz von Prozessen - nicht das Materielle, sondern das Prozessierende ist hier das Beherrschende.

Auch hier gehen die dynamischen Prozesse mit ihrer Unterwerfung der Materie unter qualitative Prozessgesetze, bis ins Unendliche fort und kennen keine andere Begrenzung als die, die ihr durch das Dominantwerden der dritten Potenz gesetzt werden. Die dritte Potenz ist die sich in sich selbst zurückschlingende, reproduzierende Produktivität, die wir Organismus nennen. So hebt die dritte Potenz die vorhergehenden nicht auf, sondern unterwirft sie in ihrem Bereich nur ihrem Drang zur Reproduktion. Die Materie und die dynamischen Prozesse werden so zur Erhaltung eines sich ständig erneuernden Lebensprozesses durch einzelne individuelle Gestaltungen hindurch eingesetzt und an dieser Aufgabe ausgerichtet.

Diese Reproduktion setzt aber einerseits notwendig eine ihr äußerlich bleibende Natur voraus und nur der Austausch mit der ihr äußeren Natur ermöglicht dem Organismus seine Reproduktion. Dieser Austausch erfolgt über die beiden Formen der Irritabilität, der beständigen Erregbarkeit des Organismus durch äußere Reize, und die Sensibilität, die beständige Einstellung der inneren Aktivität auf das Äußere. "Aber der Organismus ist alles, was er ist nur im Gegensatz gegen seine Außenwelt." (III, 147) "Für den Organismus wird die Natur, zu der er gehört, nur dadurch eine Außenwelt, daß er aus ihr gleichsam hinweggenommen und in eine höhere Potenz gleichsam erhoben wird. [...] Der Organismus allein hat eine Außenwelt, weil in ihm eine ursprüngliche Duplicität ist" (III, 154) - nämlich die der Natur mit sich selbst.

Andererseits ist der Organismus jedoch insgesamt ein Prozess, der sich nicht in einem Produkt reproduzierend erhalten kann, sondern durch die individuellen Produkte einer Gattung in der permanenten Erneuerung eines Gesamtprozesses hindurch. Dies geschieht in der Pflanzen- und Tierwelt über die duale Polarität der Geschlechter und deren Vermittlung in der Fortpflanzung. "Die Verschiedenheit der Geschlechter also, behaupten wir, ist der eigentliche und einzige Grund, warum (organische) Naturprodukte überhaupt fixirt erscheinen. (Aber sie sind ja nicht einmal fixirt. Das Individuum geht vorüber, nur die Gattung bleibt, die Natur hört deßwegen nie auf thätig zu seyn. Nur, da sie unendlich thätig ist, und da diese unendliche Thätigkeit durch endliche Produkte sich darstellen muß, muß sie durch einen endlosen Kreislauf in sich selbst zurückkehren)." (III, 53)

Diese beiden die Reproduktion des Organismus ermöglichenden Prozesse - der ständig erneuerte Austausch mit der äußeren Natur und die innere Reproduktion der Gattung über die Individuen - sind in ihrer sich potenzierenden Vermittlung Grundbedingungen der Stufenfolge des Organisationsprozesses, also dessen was wir heute Evolution nennen. Dabei ist es Schelling sehr wichtig, zu betonen, dass das Vorantreibende des evolutionären Gestaltungsprozesses sich nicht an den Produkten, sondern aus der organischen Produktivität selbst heraus vollzieht, d.h. aus der Potenzierung seiner sich widerstreitenden Tätigkeitsmomente. "Die Produktivität der Natur ist absolute Continuität. Deßwegen werden wir auch jene Stufenfolge der Organisationen nicht mechanisch, sondern dynamisch, d.h. nicht als eine Stufenfolge der Produkte, sondern als eine Stufenfolge der Produktivität aufstellen." (III, 54)

Mit der potenzierten Produktivität des Organismus sind die drei Momente, die die Naturproduktivität in ihrer Ganzheit ausmachen auch als eigene Gestaltungen hervorgetreten. Durch alle drei hindurch produziert und reproduziert sich die Natur in ihrer dreifach unendlichen Produktivität als Materiegeschehen, als dynamischer Prozess und als organische Evolution, oder - wie Schelling sagt - ihr "Produkt der Produktivität ist eine [jeweils] neue Produktivität". (III, 324)

Gleichzeitig aber treibt die Natur über sich hinaus, insofern der Organismus selbst wiederum auf eine Gestalt hin drängt, die keine Gestalt der Natur mehr ist und doch mit ihren ermöglichenden Bedingungen ganz und gar im Organismus verwurzelt ist, nämlich das menschliche Bewusstsein mit seiner absoluten Freiheit gegenüber der Natur. Auf es bezogen, bekommt der obige Satz einen nochmals anderen Sinn: das "Produkt der Produktivität [der Natur] ist eine neue Produktivität". Mit dem aus der Natur hervorgehenden, jedoch von der Natur gänzlich unabhängigen Potenzen des Bewusstseins: dem Erkennen, dem Wollen und dem Gestalten beginnt die völlig neue Prozessreihe der menschlichen Geschichte. Natur und Geschichte stehen sich erneut in grundsätzlich ausschließender Weise entgegen, daher ist noch eine dritte, beide vermittelnde Dimension gefordert. Diese liegt für Schelling - zu jener Zeit - in der künstlerischen Produktivität. Erst durch alle drei Dimensionen der Philosophie der Natur, der Geschichte und der Kunst hindurch erfüllt sich der ganze Umkreis der Wirklichkeitsphilosophie.

In seiner polemischen Auseinandersetzung mit Fichte aus dem Jahre 1806 hat Schelling darüber hinaus auf die Probleme und Gefahren des Verhältnisses des Menschen zur Natur aufmerksam gemacht. Der Mensch, das menschliche Bewusstsein mit seinen Potenzen des Erkennens, Wollens und Gestaltens ist absolut frei von der Natur, und doch - so betont Schelling - hängt es mit der Natur unabdingbar zusammen, ist aus ihr hervorgegangen und hat in der Natur seine bleibende Lebensgrundlage. In der Freiheit des menschlichen Bewusstseins gegenüber der Natur liegt jedoch eine Gefahr impliziert, dass es auf diesen Zusammenhang mit der Natur vergisst und sich als absolut frei und allein aus sich selbst konstituiert glaubt. Diese Gefahr offenbart sich in der absolutgesetzten Subjektivität der neuzeitlichen Rationalität, wie sie gerade in Fichte einen ihrer Hauptwortführer gefunden hat. Denn Fichte gibt dem, was Naturwissenschaft und Technik seit Descartes und Newton immer schon machen, indem sie die Natur allein zum Objekt menschlicher Erkenntnis erklären und zum Material menschlicher Zwecksetzung benutzen, seinen philosophischen Segen. Dem gegenüber warnt Schelling und spricht hier geradezu prophetische Worte aus: Wenn sich die Menschen in dieser Weise wissenschaftlich wie technisch auf den Thron absoluter Subjektivität setzen, so werden sie in einen tödlichen Widerspruch zu der sie tragenden Kreatürlichkeit geraten. Wörtlich sagt Schelling 1809: "Es [das absolutgesetzte Subjekt] ist im Bösen der sich selbst aufzehrende und immer vernichtende Widerspruch, daß es creatürlich zu werden strebt, eben indem es das Band der Creatürlichkeit vernichtet, und aus Uebermuth alles zu seyn, ins Nichtseyn fällt." (VII, 390f.)

 

III. Das Verhältnis der Naturphilosophie zu Naturwissenschaft, Naturerfahrung und Naturforschung

Immer wieder wird der Versuch unternommen, die Naturphilosophie Schellings in den naturwissenschaftlichen Erkenntniszusammenhang seiner Zeit und deren weiterer Entwicklung bis in unsere Zeit zu stellen. Natürlich kann man das und wird auch diese oder jene wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhänge zu Tage fördern, aber man wird dadurch - ganz gleich ob in guter oder böser Absicht -, der Intention seiner Naturphilosophie nicht gerecht. Schellings Naturphilosophie steht - ähnlich wie die Hegels, wenn auch in ganz unterschiedlicher Weise - der Intention der Naturwissenschaft diametral entgegen:

1. Was sich hier entgegensteht, hat Kant in der Dialektik der Antinomien der reinen Vernunft aufgewiesen. Die neuzeitlichen Naturwissenschaften streben objektivierte Gesetzeserkenntnisse von den Gegenständen an, die in ihren methodologischen Gesichtskreis fallen. Die strenge Ausrichtung auf dieses Objektivierungsgebot und der Einsatz mathematischer Systematisierungsformen bilden das Rezept ihres Erfolges der technischen Beherrschung der Natur. Aber sie können aus prinzipiellen Gründen niemals etwas über die Natur in ihrem produktiven Gesamtzusammenhang, über die Wirklichkeit selbst aussagen, denn sie kennen nur den Inbegriff der Gegenstände, die im Horizont ihrer Erkenntnismethode erscheint. Weder ihre eigene Erkenntnissubjektivität noch die wirkliche Natur, die das erkennende Subjekt mit umfasst, können durch die Naturwissenschaften je thematisiert, geschweige denn begriffen werden.

Gerade aber um diese Fragen geht es der Naturphilosophie Schellings in Ausfüllung dessen, was Kant dazu bereits in der Kritik der Urteilskraft entworfen hat. Schellings Naturphilosophie fragt nicht nach Kausalbeziehungen zwischen Erkenntnisobjekten und noch weniger geht es ihm um eine Mathematisierung von Gesetzesaussagen, sondern einzig und allein darum die Natur als produktiven Wirklichkeitszusammenhang, dem wir selber mit zugehören, begreifend erfassen zu können. Solches Begreifen kommt - wie Kant schon gezeigt hat - zu keinen bestimmenden und daher auch nicht zu mathematisierbaren Erkenntnissen, gleichwohl sind wir genötigt und darauf angewiesen, die Natur als produktive Ganzheit zu denken, denn wir selbst sind ja ein Teil dieser Natur und unabdingbar auf sie angewiesen.

2. Der manchmal geäußerte Vorwurf gegen Schellings Naturphilosophie, sie hebe von der Erfahrung ab, zeigt nur die philosophische Ignoranz derjenigen, die solches äußern. Denn da - wie eingangs angedeutet - bereits sein transzendentaler Idealismus auf die wirkliche Naturerfahrung bezogen ist, ist auch der Bezugspunkt der Naturphilosophie immer die erfahrene Natur in ihrer Ganzheit. Wenn also Schelling gleich anfangs betont: "Wir wissen nicht nur dieß oder jenes, sondern wir wissen ursprünglich überhaupt nichts als durch Erfahrung, und mittelst der Erfahrung, und insofern besteht unser ganzes Wissen aus Erfahrungssätzen" (III, 278), so ist dies nicht nebenher gesprochen, sondern gilt ganz grundsätzlich als Bezugspunkt für Schellings Naturphilosophie. Das, was wir als wirklichen Naturzusammenhang phänomenal erfahren, denkend aus seiner eigenen Bestimmtheit heraus zu begreifen, das ist die Aufgabenstellung der Naturphilosophie. Von daher ist auch das positive Verhältnis Goethes zu Schelling verständlich, denn gerade Goethes Naturforschung bemüht sich ebenfalls um den Erhalt eines phänomenalen Erfahrungsbezugs.

Genau darum aber ist es den objektivierenden Naturwissenschaften nicht zu tun. Deshalb ist es auch unsinnig, sie als Erfahrungswissenschaften zu bezeichnen, denn weder knüpfen sie an die Erfahrung an, noch wollen sie bei der Naturerfahrung ankommen. Vielmehr besteht ihr Verfahren methodischer Empirie gerade darin, den Erfahrungszusammenhang in isolierte Sinnesdaten aufzulösen, um diese in objektive Gesetzeszusammenhänge zu bringen. Ich sage dies nicht in diffamierender Absicht, denn die objektivierenden Naturwissenschaften müssen so verfahren, darin liegt ihr Erfolg der mathematischen Berechenbarkeit und damit auch der technischen Verfügbarkeit ihrer Ergebnisse begründet, sondern ich möchte hiermit nur unterstreichen, dass gerade die Naturphilosophie Schellings sich zu recht im Gegensatz zur Naturwissenschaft erfahrungsbezogen versteht.

3. Auch der Bezug zur Naturforschung von Naturphilosophie und Naturwissenschaft sind grundverschieden. Meist wird heute der Unterschied zwischen Naturforschung und Naturwissenschaft nur noch sehr reduziert, beispielsweise als das einfache Implikationsverhältnis der Experimentalphysik zur Theoretischen Physik gesehen. Dabei ist näher betrachtet, auch heute noch ein Großteil der Astrophysik, aber auch der Chemie und vor allem der Biologie weitgehend eine über die mathematisierte Theoriebildung hinausgehende Naturforschung. Wie dem auch immer sei, die objektivierenden Naturwissenschaften versuchen - grob gesagt - die Naturforschung in den Rahmen ihrer mathematisierten Naturtheorie einzubinden - was selbstverständlich ihr gutes Recht ist, aber nicht die einzige Möglichkeit des Bezuges zur Naturforschung.

Ganz anders versucht die Naturphilosophie Schellings die Ergebnisse der Naturforschung auf ihre Fragestellung der Natur als einer aus sich selbst bestimmten produktiven Ganzheit zu beziehen. So ist es durchaus möglich, dass ein und dasselbe Ergebnis der Naturforschung von der Naturphilosophie und der Naturwissenschaft völlig anders bewertet und verwertet wird, da die jeweilige Fragestellung eben eine völlig verschiedene ist. Man könnte dies beispielsweise an dem damals, aber auch heute noch viel diskutierten Problem der Gravitation festmachen. Auf der Grundlage der mathematischen Fassung der Gravitationsgesetze konnte man genaue Berechnungen der Planetenbahnen aufstellen und man kann heute Satelliten in vorbestimmten Bahnen in unser Planetensystem schicken. Aber von dieser Fassung der Gravitationsgesetze her lassen sich niemals Aussagen über kosmogonische und kosmologische Zusammenhänge machen. Anders herum gewendet: Von dem, was Schelling über das Gravitationssystem des Universums als Bedingung für die Entstehung und das In-Erscheinungtreten von Materie anführt, lässt sich weder eine Planetenbahn berechnen, noch Raketen in den Weltraum schicken, aber für alle auch heute noch diskutierten kosmogonischen und kosmologischen Probleme ist Schellings Naturphilosophie nach wie vor ein ernstzunehmender Gesprächspartner.

Niemals hat Schelling die ihm fälschlicherweise unterstellte Auffassung vertreten, dass er in reiner Spekulation die Naturforschung ersetzen könne oder auch nur wolle, ganz im Gegenteil hat er immer wieder auf die gegenseitige Angewiesenheit von Naturphilosophie und Naturforschung hingewiesen, jedoch - und dies vom philosophischen Fragehorizont her ganz zu recht - den Vorrang der naturphilosophischen Fragestellung betont, da nur sie den Mensch und Natur umgreifenden Gesamtzusammenhang von Wirklichkeit zu bedenken vermag. (V, 323)

4. Wenn ich hier den Gegensatz von Naturphilosophie und Naturwissenschaft so sehr herausstelle, so nicht - dies sei nochmals betont - um die Naturwissenschaft zu diffamieren, sondern nur um zu unterstreichen, wie sehr wir heute mehr denn je eine die Ganzheit der Natur bedenkende Naturphilosophie in der Nachfolge Schellings brauchen.

Seit einigen Jahrzehnten erleben wir die immer rasanter fortschreitende Naturzerstörung durch unsere wissenschaftlich-technisch-ökonomische Einstellung der Natur gegenüber. Wir können heute schon die katastrophalen Folgen hochrechnen, die diese Einstellung für die künftigen Generationen, ja für das Leben auf Erden überhaupt haben wird, wenn wir unsere Einstellung nicht zu verändern beginnen. Naturwissenschaft und Technik können dieses Problem niemals in den Griff bekommen, denn es ist ja ihre absolutgesetzte objektivistische Rationalität, die dieser Einstellung zugrunde liegt. Niemand kann sich heute mehr diesem Problem der Naturzerstörung verschließen, am allerwenigsten die Philosophen, die nach dem Zusammenhang unserer Erkenntnis und unserer Praxis mit der Wirklichkeit zu fragen haben.

Uns ist die dringende Aufgabe gestellt, unser Verhältnis zur wirklichen Natur, zu der wir selbst mit hinzugehören, grundlegend neu zu bedenken und von daher anders zu gestalten. Wenn uns das nicht gelingt, wird uns genau das passieren, was Schelling polemisch gegen Fichte prophezeite: im selbstherrlichen Übermut alles objektivieren und manipulieren zu können, werden wir unser Band mit der Kreatürlichkeit zertrennen und dadurch ins Nichtsein versinken. Die uns gestellte Aufgabe ist sicherlich nicht nur eine naturphilosophische, sondern ebenso sehr eine praxisphilosophische einer kritischen Gesellschaftsphilosophie. Aber für die naturphilosophische Seite des gestellten Problems weist die Naturphilosophie, wie sie Schelling vor 200 Jahren erstmals vorgetragen hat, uns den Weg zur Bewältigung der Aufgabe ins nächste Jahrhundert hinein.




1Vorgetragen am 14. Oktober 1998 in der Universität Jena, abgedruckt in: Information Philosophie, 27. Jahrgang, Heft 2, Juni 1999

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Literaturhinweise:

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Historisch-kritische Ausgabe im Auftrage der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. H. M. Baumgartner, W.G. Jacobs, H. Krings u. H. Zeltner, Stuttgart-Bad Cannstatt 1976 ff. (Bisher erschienen AA 1-9).

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Sämtliche Schriften, 14 Bde. hrsg. v. K F. A. Schelling, Stuttgart/Augsburg 1856 ff. (zitiert I - XIV)

Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, "Von der wirklichen, von der seyenden Natur". Schellings Ringen um eine Naturphilosophie in Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Hegel, Stuttgart-Bad Cannstatt 1996.



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